Neuerungen in Strafverfahren für beschuldigte Personen und Geschädigte

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Mit dem Jahreswechsel sind die vom Parlament 2022 beschlossenen Änderungen der Strafprozessordnung in Kraft getreten. Diese Revision der StPO bringt verschiedene Neuerungen mit sich, welche Auswirkungen auf die Rechte als beschuldigte Person oder Geschädigte bzw. Opfer in einem Strafverfahren haben. In diesem Beitrag sollen die wichtigsten Punkte für Nichtjuristen verständlich erklärt werden.



1. Revision der Strafprozessordnung

Wie und nach welchen Regeln ein Strafverfahren abläuft, bestimmt seit 2011 die Schweizerische Strafprozessordnung (kurz: StPO). Sie soll für ein faires, rechtsstaatliches Strafverfahren für alle betroffenen Personen – die Beschuldigte, der Geschädigte, das Opfer etc. – sorgen und legt gewissermassen die Spielregeln für die Strafverfolgungsbehörden (Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte) fest.

Das Parlament hat sich in den letzten Jahren intensiv mit punktuellen Änderungen der StPO auseinandergesetzt; dies mit dem Ziel, die Praxistauglichkeit der Verfahrensregeln zu verbessern. Ob dies gelungen ist, wird sich erst zeigen müssen. Wie bei jeder Änderung eines Gesetzes sind zu Beginn noch viele Punkte nicht restlos geklärt. Erst Gerichtsurteile der nächsten Jahre werden mehr Klarheit schaffen.

  

2. Ausbau der Opferrechte

Ein wesentlicher Bereich, welcher Änderungen erfahren hat, sind die Rechte der von einer Straftat betroffenen geschädigten Person bzw. des Opfers (= durch eine Straftat körperlich, sexuell oder psychisch geschädigte Person). Diese wurden etwa in folgenden Punkten ausgebaut:

  • Auch ohne Partei im Strafverfahren zu sein, hat ein Opfer neu das Recht, den Strafentscheid gegen den Täter unentgeltlich vom Gericht oder der Staatsanwaltschaft zu erhalten (Art. 117 Abs. 1 lit. g StPO).

  • Neu hat ein Opfer ausserdem Anspruch auf eine vom Staat bezahlte Rechtsvertretung auch alleine für die Durchsetzung der Strafklage (siehe unten), sofern es nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Strafklage nicht aussichtslos erscheint (Art. 136 Abs. 1 lit. b StPO). Die Kosten für die Rechtsvertretung sind in diesem Fall nicht dem Staat zurückzuerstatten (Art. 138 Abs. 1bis StPO).

 

3. Änderungen für Privatklägerinnen und Privatkläger

Privatklägerinnen und Privatkläger sind Geschädigte bzw. Opfer, welche gegenüber der Staatsanwaltschaft erklärt haben, sich am Verfahren beteiligen zu wollen. Damit erhält die geschädigte Person die Stellung einer Partei im Strafverfahren verbunden mit bestimmten Rechten, beispielsweise an Einvernahmen teilnehmen zu dürfen. Die Privatklägerschaft wird unterteilt in eine Zivil- und eine Strafklägerschaft. Der Strafkläger kann auf eine Verurteilung der beschuldigten Person hinwirken und zusätzlich auch als Zivilkläger auftreten, um im Straf­ver­fah­ren finanzielle Ansprüche gegen die beschuldigte Person geltend zu machen. Auch besteht die Möglichkeit, nur Zivilklägerin zu sein.

Privatkläger werden neu vom Gericht verpflichtet, bereits vor der Hauptverhandlung ihre Zivilklage genau zu beziffern und zu begründen (Art. 123 Abs. 2 und Art. 331 Abs. 2 StPO). Dies bedeutet, dass die Privatklägerschaft nicht mehr erst an der Verhandlung dem Gericht erklären kann, weshalb und wie viel Schadenersatz und/oder Genugtuung sie von der beschuldigten Person verlangt.

Ein wesentlicher Ausbau der Parteirechte und Einflussmöglichkeiten für Privatklägerinnen und Privatkläger gibt es in Verfahren, welche mit Strafbefehlen erledigt werden (hierzu sogleich). Zudem ist die Staatsanwaltschaft neu verpflichtet, noch nicht als Privatkläger konstituierte Geschädigte darüber zu informieren, ob ein Strafverfahren eingestellt, mit einem Strafbefehl abgeschlossen oder mit einer Anklage ans Gericht fortgesetzt wird (Art. 318 Abs. 1bis StPO). Damit verbunden ist die Möglichkeit, sich noch als Privatkläger zu konstituieren oder Beweisanträge zu stellen.

 

4. Strafbefehl

Der Strafbefehl ist die mit Abstand häufigste Form, wie Strafverfahren beendet werden. Es handelt sich vereinfacht gesagt um eine Art Urteilsvorschlag, mit welchem die beschuldigte Person mit einer Busse, einer Geldstrafe oder sogar mit Gefängnis bis zu 6 Monaten bestraft werden kann. Der Strafbefehl wird nicht vom Gericht, sondern von der Staatsanwaltschaft ausgestellt. Der beschuldigten Person wird die Möglichkeit gegeben, innert 10 Tagen Einsprache dagegen zu erheben, ansonsten der Strafbefehl die Wirkung eines Gerichtsurteils hat.

Neu muss die Staatsanwaltschaft zwingend eine persönliche Befragung der beschuldigten Person durchführen, wenn sie im Strafbefehl eine Verurteilung mit einer zu verbüssenden Freiheitsstrafe vorsieht (Art. 352a StPO).

Eine zentrale Änderung bei Strafbefehlen betrifft den Umgang mit den bereits oben beschriebenen Zivilforderungen von Privatklägerinnen und Privatklägern. So ist die Staatsanwaltschaft im Grundsatz verpflichtet, selber – wie ein Zivilrichter – über solche Ansprüche von Geschädigten zu entscheiden, wenn die Forderung Fr. 30'000.– nicht übersteigt und keine weiteren Beweise mehr abgenommen werden müssen (Art. 353 Abs. 2 StPO). Wie diese Änderung von den einzelnen Staatsanwältinnen und Staatsanwältin in der Praxis angewendet werden wird, muss sich erst noch zeigen.

Weiter erhält die Privatklägerschaft neu ausdrücklich das Recht, Einsprache gegen Strafbefehle zu erheben, wenn sie mit diesen nicht einverstanden ist (Art. 354 Abs. 1 lit. abis StPO). Die Einsprache ist dabei zu begründen und darf sich nicht gegen die ausgesprochene Strafe richten. Was je nach Konstellation einen erfreulichen Ausbau der Rechte für geschädigte Personen sein kann, könnte gleichzeitig aber auch als ein Instrument gegen die beschuldigte Person Verwendung finden. So besteht die Gefahr, dass Privatklägerinnen und Privatkläger die zwischen der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung der beschuldigten Person ausgehandelten Strafbefehle – mit dem Ziel einer für alle Beteiligten effizienten Fallerledigung – für eigene Interessen torpedieren könnte.

 

5. Untersuchungshaft

Bei schwereren Anschuldigungen kann die Staatsanwaltschaft Untersuchungshaft beantragen. Diese darf allerdings nur unter bestimmten Voraussetzungen – dringender Tatverdacht für ein Verbrechen oder Vergehen sowie ein besonderer Haftgrund wie z.B. Fluchtgefahr oder bei Gefahr von Absprachen mit Mitbeschuldigten – von einem Gericht angeordnet werden. Neu regelt die Strafprozessordnung ausdrücklich, dass gegen solche Entscheide des Gerichts auf Anordnung von Untersuchungshaft nur noch die inhaftierte Person und nicht auch die Staatsanwaltschaft ein Rechtsmittel an ein höheres Gericht ergreifen kann (Art. 222 StPO). Leider werden im Kanton Zürich über 90 % aller Haftanträge gutgeheissen und Untersuchungshaft angeordnet. Deshalb wird diese Änderung nur beschränkt Auswirkungen haben und es ist nicht ausgeschlossen, dass die Gerichte sich zum Nachteil der beschuldigten Person von einem Sicherheitsdenken leiten lassen. Weiter wurden mit der Revision die besonderen Haftgründe der Wiederholungsgefahr sowie der Ausführungsgefahr im Gesetz konkreter umschrieben (Art. 221 StPO).

6. Siegelung

Insbesondere von Seiten der Strafverfolgungsbehörden wurde eine Änderung des sog. (Ent-)Siegelungsverfahrens angestrebt. Mit der Siegelung haben von einem Strafverfahren Betroffene die Möglichkeit, der Polizei und der Staatsanwaltschaft zunächst den Zugriff auf digitale Geräte (Mobiltelefone, Computer etc.) oder andere Aufzeichnungen (Papierdokumente wie Ordner etc.) zu verbieten, um besonders geschützte Informationen wie Kommunikation mit Anwältinnen, Ärzten oder sonstigen Geheimnisträgern von einem unabhängigen Gericht herausfiltern zu lassen. Mit der Revision wurde das Verfahren zur Aussonderung dieser Informationen überarbeitet (Art. 248 und Art. 248a StPO). Im Detail ist dieses Verfahren komplex. Für Betroffene ist wichtig zu wissen, dass man neu zwingend innert 3 Tagen nach der Beschlagnahmung durch die Polizei (sog. Sicherstellung) solche Siegelungsgründe geltend machen muss.

7. Feststellung der Fahrunfähigkeit: Mehr Kompetenzen für Polizei

Im Strassenverkehr darf die Polizei neu selbständig Blut- und Urin abnehmen lassen sowie die Auswertung der Proben anordnen, um die Fahrfähigkeit einer Lenkerin festzustellen (Art. 251a StPO). Vor der Revision brauchte es die Erlaubnis einer Staatsanwältin oder eines Staatsanwalts. Mit Blut- und Urinanalysen kann festgestellt werden, ob ein Fahrzeug unter dem Einfluss von Alkohol, Drogen oder Medikamenten gelenkt wurde und erlaubt etwa zeitliche Rückrechnungen.

8. Erstellung von DNA-Profilen

Bei vielen Delikten wird heute standardmässig von der Polizei eine DNA-Probe von der beschuldigten Person abgenommen. Während die Polizei die Abnahme dieser Probe anordnen kann, steht es einzig der Staatsanwaltschaft zu, die DNA auszuwerten und etwa mit einer Datenbank oder anderen Proben abzugleichen. Erlaubt ist, nicht nur DNA zur Aufklärung der beschuldigten Tat auszuwerten, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch für andere oder künftige Straftaten. Mit den neuen Regeln wurden die Auswertungsmöglichkeiten von DNA-Proben konkretisiert und teilweise ausgebaut (Art. 255–259 StPO). Sollten Sie von einer Abnahme betroffen sein, prüfen Sie immer kritisch die Verfügung, mit welcher ein sogenanntes DNA-Profil erstellt wird. Wenden Sie sich bei Bedarf umgehend an eine Rechtsanwältin oder einen Rechtsanwalt. Vielfach werden diese Profile erstellt, ohne dass die gesetzlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.

9. Neue Möglichkeiten für die Protokollierung von Befragungen

Damit Aussagen von Zeugen, Opfern oder Beschuldigten als Beweismittel verwendet werden können, müssen die Befragungen protokolliert und schriftlich festgehalten werden. Neu ist vorgesehen, dass es nicht nur vor Gericht, sondern bereits bei der Staatsanwaltschaft und der Polizei möglich ist, das Protokoll erst nach der Einvernahme gestützt auf eine Audio- oder Video-Aufzeichnung zu erstellen (Art. 78a StPO). Bis anhin musste dies direkt an der Einvernahme geschehen. Es wird sich zeigen, ob dies zu einer Änderung der Protokollierungen führt.

10. Konsequenzen für laufende Verfahren

Doch welchen Einfluss haben die Neuerungen auf Strafverfahren, welche schon vor 2024 eröffnet wurden? Diese Frage wird in den sogenannten Übergangsbestimmungen am Ende des Gesetzes beantwortet (Art. 448–456 StPO). Im Grundsatz gilt für am 1. Januar 2024 sich noch bei der Staatsanwaltschaft befindliche Strafverfahren, dass diese nach den neuen Regeln zu führen sind. Für Verfahren, welche bereits an einem Gericht sind, gibt es allerdings noch diverse Ausnahmen.

11. Weitergehende Beratung

Sind Sie in ein Strafverfahren verwickelt worden, von einer Straftat als Opfer betroffen oder haben Sie einen Strafbefehl erhalten? Gerne stehen Ihnen die Expertinnen und Experten von Legal Partners Zurich zur Seite, beraten Sie kompetent und stehen für Ihre Interessen ein. Kontaktieren Sie uns unverbindlich.