Die obligatorische Landesverweisung nach Art. 66a StGB

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Bei einer strafrechtlichen Verurteilung drohen nebst der Strafe und den Kosten weitere, teils sehr einschneidende Folgen. Eine davon ist die Landesverweisung, die am 1. Oktober 2016, mit Art. 66a des schweizerischen Strafgesetzbuches (StGB) in Kraft trat.

Art. 66a StGB sieht vor, dass ausländische Personen, welche in der Schweiz wegen gewisser, einzeln aufgezählter Delikte verurteilt werden, für mindestens fünf Jahre obligatorisch des Landes zu verweisen sind. Die Einführung dieses Artikels beruht auf der sogenannten Ausschaffungsinitiative, welche durch das Schweizer Stimmvolk am 28. November 2010 angenommen wurde.

1.   Grundsätzliches und ein paar Zahlen

Einleitend ist festzuhalten, dass eine Landesverweisung nur für Ausländer[1] ausgesprochen werden kann, für Personen also, die nicht die schweizerische Staatsbürgerschaft besitzen. Ob eine Person neben der schweizerischen Staatsbürgerschaft eine weitere Staatsbürgerschaft besitzt, ist unerheblich. Die Landesverweisung ist insofern «obligatorisch», als das Gericht bei Verurteilung eines Ausländers aufgrund einer in Art. 66a StGB genannten Straftat (sog. Katalogtat) stets auch eine Landesverweisung auszusprechen hat (davon kann nur in konkreten Ausnahme­fällen, den sogenannten Härtefällen, bei entschuldbarem Notstand oder entschuldbarer Notwehr abgesehen werden). Das Gericht verfügt über kein Ermessen, ob im konkreten Fall eine Landesverweisung sinnvoll und angebracht erscheint oder nicht. Dabei darf das Gericht insbesondere auch die Höhe der ausgesprochenen Strafe nicht berücksichtigen. Einzig über die Härtefallprüfung kommt dem Gericht ein eingeschränktes Ermessen zu, ob an der Landesverweisung festgehalten wird oder nicht. Die Dauer der Landesverweisung beträgt zwischen fünf und fünfzehn Jahren.

 

Zudem sieht Art. 66abis StGB eine nicht obligatorische, also fakultative Landesverweisung vor. Hier kann das Gericht eine Landesverweisung von drei bis fünfzehn Jahren aussprechen, wenn ein Ausländer wegen eines Vergehens oder Verbrechens zu einer Strafe verurteilt oder gegen ihn eine Massnahme nach den Art. 59–61 oder 64 StGB angeordnet wird, muss es aber nicht.

 

Im Jahr 2019 wurden gemäss Bundesamt für Statistik 1’962 Landesverweisungen ausgesprochen, im Jahr 2020 1’826[2]. Damit wurden in rund 60 % der Fälle, in welchen eine Verurteilung aufgrund einer Katalogtat nach Art. 66a StGB erfolgte, auch eine Landesverweisung angeordnet.

 

2.   Notwendige Verteidigung

Straffälle, in welchen der beschuldigten Person aufgrund einer Katalogtat eine Landesverweisung droht, stellen einen Fall von notwendiger Verteidigung dar (Art. 130 lit. b StPO). Steht also eine Katalogtat zur Diskussion, muss der beschuldigten Person ein Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin als Verteidiger zur Seite gestellt werden – sofern die beschuldigte Person nicht genügend Geld zur Verfügung hat, hat sie Anspruch auf einen Strafverteidiger oder eine Strafverteidigerin, welcher (zunächst) vom Staat bezahlt wird (sog. amtliche Verteidigung). Erkundigen Sie sich frühzeitig bei Polizei, Staatsanwaltschaft oder einem Anwalt.

 

3.   Welche Taten führen zu einer obligatorischen Landesverweisung?

Der in Art. 66a StGB aufgeführte Katalog an Taten, welche obligatorisch zu einer Landesverweisung führen, ist lang: Er umfasst Delikte gegen Leib und Leben (unter anderem vorsätzliche Tötung, Mord, Totschlag, schwere Körperverletzung, Gefährdung des Lebens, Angriff), aber auch diverse Vermögensdelikte (unter anderem qualifizierte Veruntreuung und qualifizierter Diebstahl, Raub, gewerbsmässiger Betrug), ebenso «einfachen» Diebstahl in Verbindung mit einem Hausfriedensbruch oder «einfachen» Betrug im Bereich der Sozialversicherung oder der Sozialhilfe oder unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe. Auch diverse Sexualdelikte führen zu einer obligatorischen Landesverweisung, so unter anderem sexuelle Handlungen mit Kindern, sexuelle Nötigung, Vergewaltigung oder Schändung sowie bestimmte Formen der Pornografie, ebenso wie eine qualifizierte Widerhandlung gegen das Betäubungs­mittel­gesetz – nebst zahlreichen weiteren, weniger häufig anzutreffenden Delikten.

 

Gemäss Bundesamt für Statistik sind die häufigsten Delikte, welche zu einer obligatorischen Landesverweisung führen:

  • schwerer Fall von Betäubungsmittelhandel (Art. 19 Abs. 2 BetmG)

  • qualifizierter Diebstahl (Art. 139 Ziff. 2 und 3 StGB)

  • Raub (Art. 140 StGB)

  • unrechtmässiger Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe (148a Abs. 1 StGB)

  • schwere Körperverletzung (Art. 122 StGB)

  • Pornografie (Art. 197 Abs. 4 Ziff. 2 StGB)

 

4.   Die Härtefallklausel

Die Härtefallklausel besagt, dass das Gericht ausnahmsweise von einer Landesverweisung absehen kann, wenn diese für den Ausländer einen schweren persönlichen Härtefall bewirken würde und die öffentlichen Interessen an der Landesverweisung gegenüber den privaten Interessen des Ausländers am Verbleib in der Schweiz nicht überwiegen. Dabei ist der besonderen Situation von Ausländern Rechnung zu tragen, die in der Schweiz geboren oder aufgewachsen sind (Art. 66a Abs. 2 StGB).

 

Gemäss Rechtsprechung sind bei der Beurteilung, ob ein Härtefall vorliegt, der Grad der (persönlichen und wirtschaftlichen) Integration, einschliesslich familiärer Bindungen des Ausländers in der Schweiz bzw. in der Heimat, sowie Aufenthaltsdauer und Resozialisierungschancen zu berücksichtigen. Weiter wird die Rückfallgefahr und die wiederholte Delinquenz berücksichtigt.

Die Härtefallklausel wird restriktiv angewendet und die Kriterien der Verhältnismässigkeit werden streng geprüft.

 

5.   Aus der Praxis

Schwerer Fall von Betäubungsmittelhandel

Von einem schweren Fall nach Art. 19 Abs. 2 BetmG spricht man, wenn eine der folgenden Voraussetzungen erfüllt ist:

 

a.      Wenn der Täter weiss oder annehmen muss, dass die Widerhandlung mittelbar oder unmittelbar die Gesundheit vieler Menschen in Gefahr bringen kann.

Zentrales Kriterium ist die Menge des reinen Stoffes, welche reichen müsste, um viele Menschen (gemäss Rechtsprechung spricht man von mind. 20 Personen) zu gefährden. Davon wird in der Rechtsprechung ausgegangen bei 12g Heroin-Hydrochlorid, bei 18g Kokain oder bei 200 Trips LSD (vgl. dazu BGE 109 IV 145).

 

b.      Wenn der Täter als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Ausübung des unerlaubten Betäubungsmittelhandels zusammengefunden hat.

Als Bande gelten zwei oder mehr Täter, die für die Verübung mehrerer Straftaten zusammenwirken.

 

c.      Wenn der Täter durch gewerbsmässigen Handel einen grossen Umsatz oder einen erheb­lichen Gewinn erzielt.

Gewerbsmässig handelt eine Person, wenn sie mit ihrem Handeln an die Kosten der eigenen Lebensgestaltung einen namhaften Beitrag leisten kann. Durch das Kriterium des grossen Umsatzes bzw. des erheblichen Gewinns hat das Bundesgericht die Tat­bestands­mässigkeit enger gefasst. Von einem grossen Umsatz spricht man ab CHF 100'000.00, von einem erheblichen Gewinn ab CHF 10'000.00.

 

d.      Wenn der Täter in Ausbildungsstätten vorwiegend für Jugendliche oder in ihrer unmittel­baren Umgebung gewerbsmässig Betäubungsmittel anbietet, abgibt oder auf andere Weise zugänglich macht.

Gemeint sind hier vorwiegend Schulen.

Sozialhilfebetrug

In Art. 148a StGB wird der unrechtmässige Bezug von Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe unter Strafe gestellt. Art. 148a Abs. 1 StGB hält fest: Wer durch unwahre oder unvollständige Angaben oder durch Verschweigen von Tatsachen oder in anderer Weise jemanden irreführt oder in einem bereits bestehenden Irrtum bestärkt, sodass der Täter oder die Täterin oder eine andere Person Leistungen einer Sozialversicherung oder der Sozialhilfe bezieht, welche dieser Person nicht zustehen würden, macht sich nach Art. 148a StGB strafbar.

 

Nicht nur aktiv falsche Angaben zu machen ist strafbar, sondern auch das Verschweigen von Tatsachen. So macht sich beispielsweise strafbar, wer auf die Frage der Sozialhilfebehörde, ob er arbeite, wahrheitswidrig mit «Nein» antwortet, ebenso aber, wer gegenüber der Sozialhilfebehörde auch ohne ausdrückliche Frage schlicht verschweigt, zu arbeiten, oder beispielsweise nicht mitteilt, probehalber einige Tage gearbeitet zu haben, selbst wenn sich daraus keine Anstellung ergeben hat. Die Strafe beträgt Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe. Lediglich in leichten Fällen ist nur eine Busse auszufällen, wie Art. 148a Abs. 2 StGB festhält.

 

Eine Verurteilung nach Art. 148a Abs. 1 StGB führt zu einer obligatorischen Landes­verweisung, eine Verurteilung wegen eines leichten Falles nach Abs. 2 hingegen nicht. Daher ist die Frage, bis wann nur ein leichter Fall vorliegt, von erheblicher Relevanz. Hierzu sei auf ein Bundesgerichtsurteil vom 13. Oktober 2020 verwiesen (BGer 6B_1161/2019). Das Bundesgericht hielt fest, dass zur Unterscheidung zwischen dem Grundtatbestand (Abs. 1) und dem leichten Fall (Abs. 2) nicht allein auf den Deliktsbetrag abgestellt werden könne. Vielmehr müsse das Mass der kriminellen Energie berücksichtigt werden – im vorliegenden Fall wurde erkannt, dass die Beschuldigte trotz des eher geringen Deliktsbetrags von rund CHF 4'500.00 aufgrund vorangegangener Warnungen und Nachfragen der Sozialhilfebehörden, denen sie keine Beachtung schenkte, bereits den Grundtatbestand erfüllte. Ein leichter Fall ohne obligatorische Landesverweisung stand darum nicht mehr zur Diskussion.

 

Einbruchdiebstahl

Wer, um einen Diebstahl zu begehen, gleichzeitig einen Hausfriedensbruch begeht, erfüllt die Kriterien für eine Landesverweisung nach Art. 66a StGB. Dabei muss nicht zwingend ein Schloss aufgebrochen oder eine Scheibe eingeschlagen werden. Bereits ein Eindringen durch ein offenes Fenster oder eine offene Tür genügt, um einen «Einschleichdiebstahl» zu begehen.

 

Heikel ist, dass es sich beim Hausfriedensbruch um ein Antragsdelikt handelt. Es wird also der strafantragsberechtigen (privaten) Person überlassen, ob ein Strafantrag gestellt oder allenfalls zurückgezogen wird. Damit kommt einer Privatperson neben dem Staat die Kompetenz zu, darauf Einfluss zu nehmen, ob eine Landesverweisung in Frage kommt oder nicht.

 

Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung fällt ein Ladendiebstahl, in welchem bereits ein Hausverbot vorliegt, obwohl auch dabei ein Hausfriedensbruch begangen wird, nicht unter den Katalog von Art. 66a StGB. Begründet wird diese Ansicht mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip und damit, dass gemäss Art. 121 Abs. 3 der Bundesverfassung einzig «Einbruchdelikte» zu einer Landesverweisung führen sollen.

 

Pornografie

Eine Landesverweisung wird nach Art. 66a lit. h StGB ausgesprochen, wenn der Täter eine strafbare Handlung nach Art. 197 Abs. 4 zweiter Satz StGB vornimmt. Darunter fällt, wer pornografische Schriften, Ton- oder Bildaufnahmen, Abbildungen, andere Gegenstände solcher Art oder pornografische Vorführungen, die tatsächliche sexuelle Handlungen mit Minderjährigen zum Inhalt haben, herstellt, einführt, lagert, in Verkehr bringt, anpreist, ausstellt, anbietet, zeigt, überlässt, zugänglich macht, erwirbt, sich über elektronische Mittel oder sonst wie beschafft oder besitzt.

 

Mit diesem Artikel wird gegen die Verbreitung von Kinder- und Tierpornografie vorge­gangen. Besondere Beachtung ist dem Wortlaut «besitzt» zu schenken. Grösste Gefahr stellen hier die Gruppen-Chats auf WhatsApp und Facebook Messenger dar, über welche vermeintlich lustige Videos mit tier- oder kinderpornografischem Inhalt verschickt werden. Meist ist als Voreinstellung die «Autospeicher»-Funktion im Smartphone aktiviert, sodass jedes Bild und jedes Video, welches über einen der verschiedenen Kanäle eingeht, direkt auf dem Handy gespeichert werden. Löscht man diese nicht umgehend, so ist man bereits im Besitz des Bildes respektive des Videos und riskiert, sich deshalb strafbar zu machen.

 

Viele sind sich dessen nicht bewusst und schicken sich gegenseitig «lustig» gemeinte Videos, welche aber aufgrund ihres expliziten Inhaltes nach Art. 197 StGB strafbar sind.

 

Es wird deshalb geraten, die Autospeicherfunktion von WhatsApp auszuschalten, erhaltene Bilder mit verbotener Pornografie umgehend zu löschen, die Absenderin oder den Absender auf die Problematik hinzuweisen und bei Wiederholungen aus problematischen Gruppen auszutreten.

 

Dass es auch bei Fällen mit tiefer Strafe zu einem Landesverweis kommen kann, zeigt der neuste Entscheid des Bundesgerichts vom 2. Juni 2022 (BGer 6B_304/2021).

 

6.   Fazit

Bei der Landesverweisung handelt es sich um eine äusserst einschneidende Massnahme. Auch wenn sie grundsätzlich nur zum Tragen kommt, wenn schwere Delikte gemäss vorgegebenem Katalog in Art. 66a StGB begangen werden, so verbleibt doch ein Restrisiko, dass sie eben auch bei kleineren Delikten bzw. bei geringem Verschulden, bei welchen ein tiefes Strafmass vorgesehen wäre, ausgesprochen werden muss. Den Gerichten kommt nur in einem eingeschränkten Rahmen, nämlich bei der Härtefallprüfung, ein Ermessen zu, wobei diese nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung restriktiv zu erfolgen hat.

 

7.      Weitergehende Beratung

Sollten Sie Fragen zum Einzelfall haben oder eine Beratung benötigen, so stehen Ihnen die Experten von Legal Partners Zurich gerne zur Verfügung.


[1] Gemeint sind stets beide Geschlechter. Der Lesbarkeit halber wird jeweils nur ein Terminus verwendet.

[2] Quelle: Bundesamt für Statistik, Link: https://www.bfs.admin.ch/asset/de/je-d-19.03.03.02.01.11.01